Die Schweizer Fahne – vom Winde verweht: Die historisch gewachsene direkte Demokratie der Schweiz ginge mit den neuerdings «Bilaterale III» genannten Verträgen der Schweiz mit der EU verloren. Die Schweiz würde ihre Eigenstaatlichkeit und Souveränität weitestgehend aufgeben. (Bild Keystone)

«In der EU ist nicht das Volk gefragt, Demokratie ist höchstens ein Störfaktor»

Wer sich über den Inhalt des EU-Vertragspakets der Schweiz – neuerdings vom Bundesrat aus Propagandagründen «Bilaterale III» genannt – sachlich informieren will, hat es schwer. Das 2000seitige Vertragswerk, abgefasst in Juristendeutsch, verlangt grosse Fach- und Sachkenntnis sowie viel Durchhaltewillen, wenn man sich durch die einzelnen Abkommen, zum Teil ergänzt mit zusätzlichen Protokollen, durchwühlen will.

Um alles zu verstehen und richtig einordnen zu können, muss man aber nicht unbedingt Hunderte von Seiten durchforsten. Es wird ziemlich schnell klar, wohin das Äpfelchen, oder besser gesagt, der Apfel rollt. Das Argument, die Schweiz brauche die Verträge und sie seien ein guter Kompromiss, ist ohne Substanz.

Wofür brauchen wir einen Kompromiss, und was heisst das? Vielleicht ein bisschen EU und doch noch ein bisschen Schweiz? Für einen souveränen Staat ein Unding. (Hervorhebung durch die Redaktion)

Der Schweizer Historiker Oliver Zimmer, Professor für moderne Geschichte, schreibt dazu in seinem neusten Buch «Brüssel einfach?»1: «Das europäische Projekt hat als Voraussetzung den Abbau nationaler Staatlichkeit. Dass dies auf Kosten der bürgerlichen Mitbestimmung geht, liegt auf der Hand. [ … ] Wer den Vertrag als Kompromiss bezeichnet, betreibt entweder Augenwischerei oder hat die drei Schlüsseldoktrinen des europäischen Rechts – ihre direkte Anwendbarkeit, ihre Suprematie und ihre Autonomie – nicht begriffen.» (S. 102)

Oliver Zimmer stellt in zehn Essays die Unvereinbarkeit der Schweiz und der EU dar. Die Lektüre sei jedem empfohlen, der sich mit dem Verhältnis Schweiz - EU auseinandersetzen möchte.

Zunehmend kritische Stimmen

Erfreulich ist, dass sich in letzter Zeit immer mehr Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben zu Wort melden und wichtige Elemente aus dem Vertragspaket unter die Lupe nehmen. Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte schon mehrere kritische Beiträge dazu und stösst damit die öffentliche Diskussion an, die es dringend braucht.

In diesen Artikeln ging es um Fakten, um den konkreten Inhalt der Verträge und nicht um ein Glaubensbekenntnis «für oder gegen» Europa. Das ist auch unsinnig, denn die Schweiz ist ein Teil Europas. Hier müssen wir ganz klar festhalten: Die EU ist nicht Europa. Europa bietet mehr als die EU. Einige dieser erwähnten Stimmen waren alt Bundesrat Johann Schneider-Amman, alt Bundesrichter Hansjörg Seiler, Professor Oliver Zimmer und andere.

Direkte Demokratie wird eingeschränkt

Letzterer untersucht in seinem bereits erwähnten Buch die Auswirkungen des EU-Vertragspakets unter anderem auf das Staatswesen der Schweiz. Den Titel seiner trefflichen Analyse begründet er zum einen damit, dass «manche unserer Bundesbeamten – was ihr staatspolitisches Denken betrifft – in Brüssel verblieben sind.» (S. 22)

Das sind die Beamten, die zusammen mit ihren Departementsvorstehern der Bevölkerung glauben machen wollen, dass die direkte Demokratie durch das Vertragspaket nicht eingeschränkt werde und sich für die Schweiz und ihre Bevölkerung grundsätzlich nichts ändere. Die Realität ist eine andere: Der Bundesrat übernimmt mehrheitlich Gesetze aus der (Gift)-Küche der EU, die nicht mehr vom Volk korrigiert werden können.

Oliver Zimmer zeigt auch den Widerspruch in der Argumentation des Bundes auf. «Auch im ‹Erläuternden Bericht des Bundesrats zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens› [ … ] bleibt man dieser Argumentationslinie treu. Dort heisst es wiederholt, mit dem ausgehandelten Abkommen werde ‹die Funktionsweise der Institutionen der Schweiz, insbesondere der direkten Demokratie, des Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes› gewahrt.

An einer anderen Stelle ist dann allerdings bloss noch vom ‹Ziel› die Rede, die Grundsätze der direkten Demokratie, des Föderalismus und des sektorspezifischen Charakters (der Beteiligung der Schweiz) am EU-Binnenmarkt zu wahren. [ … ] Eine Differenz in der Wortwahl, die tief blicken lässt.» (S. 22f.)

Anbindung an die EU wäre kaum reversibel

Der zweite Grund für den vielsagenden Titel von Zimmers Buch «betrifft die Zeitdimension der eingegangenen vertraglichen Bindung: Eine institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU wäre kaum reversibel. Die These, wonach sich die Schweiz aus einer solchen Vertragsbeziehung jederzeit wieder herauslösen könnte, ist unrealistisch. [ … ]

Das Retourbillett wäre aufgrund der entstandenen institutionellen Verzahnungen kaum mehr eine Option.» (S. 27) Für Oliver Zimmer gilt als wesentliche Grundlage des Vertragswerks: «‹Die Rechtsakte der Union, auf die im Abkommen Bezug genommen wird, und die Bestimmungen des Abkommens, soweit ihre Anwendung unionsrechtliche Begriffe impliziert, werden gemäss der vor oder nach der Unterzeichnung des Abkommens ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt und angewandt.› So lautet Artikel 7 Absatz 2 des institutionellen Protokolls zum neuen Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU.» (S. 15)

EU-Gesetze für die Schweiz

Was bedeuten «die Rechtsakte der Union» für unser Schweizer Gesetzgebungsverfahren? Konsultiert man die «Übersicht EU-Gesetzgebungsakte Paket Schweiz-EU» erfährt man dort, dass die Gesetzgebungsakte der EU, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen würden, grundsätzlich mit derjenigen von Bundesgesetzen in der Schweiz vergleichbar seien: «Wie diese enthalten sie wichtige rechtssetzende Bestimmungen. [ … ] Gesamthaft übernimmt die Schweiz im Rahmen des Vertragspakets Schweiz-EU 95 EU-Gesetzgebungsakte.»2

Eine Zahl, die aufhorchen lässt. Seit wann können Gesetze für die Schweiz ausserhalb ihres eigenen Hoheitsgebiets erlassen werden? Sollte das EU-Vertragspaket in einer Volksabstimmung tatsächlich angenommen werden, müssten die 95 EU-Gesetzgebungsakte entweder auf Schweizer Recht angepasst ­(Äquivalenzverfahren) oder als geltendes Recht unverändert übernommen werden. (Integrationsverfahren). Das ist eine Katastrophe.

Geht man in die einzelnen Verträge, ist aufgeführt, in welchem wie viele Rechtsakte übernommen werden müssten. So sind es zum Beispiel beim Vertrag über die Lebensmittelsicherheit 61 Gesetzgebungsakte. Wie viele nach Annahme der Verträge im Laufe der Zeit noch hinzukommen werden, steht in den Sternen. Auf alle Fälle wird die Abhängigkeit der Schweiz von der EU rasant anwachsen. Schaut man sich das Vertragspaket noch genauer an, begegnet man «EU-Verordnungen» und «EU-Richtlinien.»3

Von Richtlinien und Verordnungen

Was die beiden Rechtsbegriffe bedeuten, wird von der EU wie folgt definiert: Die EU-Richtlinie ist ein Rechtsakt, der von den EU-Ländern in nationales Recht übertragen werden muss. «Die innerstaatlichen Stellen der EU-Länder, an die sich die Richtlinie richtet, bestimmen die Form und Mittel, die zur Integration der Richtlinie ins nationale Recht eingesetzt werden (formell ‹Umsetzung›). Dies muss im Allgemeinen innerhalb von zwei Jahren nach Erlass der Richtlinie geschehen.»4 Eine EU-Richtlinie müsste also ins Schweizer Recht überführt werden und unterläge formal dem fakultativen Referendum.

Anders sieht es bei den EU-Verordnungen aus. Das sind EU-Gesetze, die ohne Wenn und Aber von der Schweiz unverändert übernommen werden müssten und zu befolgen wären. «Eine Verordnung ist von ihren Adressaten in vollem Umfang zu befolgen und sie gilt unmittelbar in den Mitgliedstaaten. [ … ] Verordnungen gelten gleichzeitig, automatisch und einheitlich überall in der EU.»5

Die Schweiz übernimmt 50 Verordnungen

Wenn man sich unter diesen Gesichtspunkten die 95 EU-Rechtsgebungsakte nochmals ansieht, stellt man fest, dass es an die 50 Verordnungen gibt, die die Schweiz übernehmen müsste, was nichts anderes bedeutet, als dass Gesetze, die nicht von der Bundesversammlung im parlamentarischen Legislaturprozess entstanden sind, sondern im Rechtsverfahren der EU, für die Schweiz vollständige Gültigkeit hätten. Deren Umsetzung würde vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) überwacht.

Dass die Übernahme von EU-Recht gegen die Bundesverfassung verstösst, hat Professor Paul Richli in seinem Vortrag vor dem Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik in einer vertieften juristischen Analyse des aktuellen EU-Vertragspakets ausführlich dargelegt: «Nach Art. 163 Abs. 2 erlässt die Bundesversammlung rechtsetzende Bestimmungen in Form des Bundesgesetzes oder der Verordnung.»6

EU-gelenkte Demokratie?

Wenn also der EuGH als letzte Instanz über die richtige Umsetzung der EU-Gesetze durch die Schweiz wacht und nach Gutdünken Strafmassnahmen ergreifen kann, wie in den Verträgen unverhohlen festgeschrieben, und zudem nicht festgelegt ist, welche Strafen die Schweiz zu gewärtigen hat, dann hat das alles mit Bilateralismus, und der Wahrung der direkten Demokratie und letztlich staatlicher Souveränität nichts zu tun. (Hervorhebung durch die Redaktion)

Es ist eine grundlegende Änderung des politischen Prozesses und die «Unterwerfung» unter ein fremdes Gericht mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten. Mit anderen Worten, in nationalen Belangen befinden wir uns in einer EU-gelenkten Demokratie wieder.

Nicht das Volk als oberste Instanz – wie in unserer direkten Demokratie festgelegt – entscheidet, sondern ein Gericht, das ausserhalb der nationalen Souveränität steht und auf das die Schweiz keinen Einfluss hat.

Die Bedeutung des EuGH im gesamten Machtgefüge der EU ist gross: «Wer die Rolle des Europäischen Gerichtshofs beurteilen will, tut gut daran, einen Zeugen anzurufen, der nicht im Verdacht steht, ein unverbesserlicher Abschotter zu sein. In seinem Gutachten an den Bundesrat aus dem Jahre 2010 beurteilte der Schweizer Völkerrechtler Daniel Thürer die Rolle des EuGH wie folgt: ‹Die vorliegenden Untersuchungen haben gezeigt, dass die Spielräume auf EU-Seite beschränkt sind: Insbesondere lässt es die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht zu, dass sich die beiden Vertragspartner einem gemeinsamen Gerichtsmechanismus unterwerfen, der – direkt oder indirekt – den acquis de l’Union präjudiziell beeinflussen und so die Autonomie der EU-Rechtsordnung beeinträchtigen könnte.›» (S. 110)

Recht als politisches Instrument

In der EU sind es nicht die Bürger, die die Politik bestimmen, sondern hier sind andere Mechanismen am Wirken. In der Schweiz hat man ein völlig anderes Verständnis vom Staat und seiner Funktion.

Er ist kein übergeordnetes abstraktes Gebilde wie in der EU, das weit von seinen Bürgerinnen und Bürgern entfernt ist und die in ihr lebenden Menschen vor allem verwaltet, sondern ein von den Bürgerinnen und Bürgern von unten nach oben aufgebautes und historisch gewachsenes direktdemokratisches Staatswesen. Während das Schweizer Volk mit direkter politischer Einfluss­nahme und Gestaltung ein hohes Mass an demokratischer Mitbestimmung besitzt, fehlt dies in der EU vollständig. (Hervorhebung durch die Redaktion)

Die EU steht diametral zur politischen und gesellschaftlichen Kultur der Schweiz. «Die meisten Menschen betrachten eine möglichst weitgehende demokratische Mitbestimmung als Grundlage auch ihrer persönlichen Freiheit. Diese Erkenntnis steht am Ursprung des demokratisch-republikanisch geläuterten Liberalismus der Schweiz». (S. 109)

In der EU ist nicht das Volk gefragt, Demokratie ist höchstens ein Störfaktor: «Das politische Sittengesetz der Europäischen Union ist bekannt: Die EU verwendet das Recht als politisches Instrument. Die Gestaltungsmacht liegt bei den Gerichtshöfen in Luxembourg und Strassburg [ … ]. Diese Treiber des EU-Supranationalismus verkörpern das institutionalisierte Misstrauen gegenüber jeglicher Form der demokratischen Mitbestimmung.» (S. 110)

Für die Bevölkerung der Mitgliedstaaten heisst das: «Für Europas Demokratien bedeutete die europäische Integration einen fortschreitenden Machttransfer: weg von der Legislative und von den Bürgerinnen und Bürgern und hin zu Verwaltung, Exekutive, Judikative und Gross­konzernen.» (S. 38)

Das letzte Wort hat das Volk

Was für Schlüsse muss man daraus ziehen? Das EU-Vertragspaket ist als gesamtes zurückzuweisen und muss, wenn überhaupt nötig, als echtes bilaterale Abkommen neu ausgehandelt werden. Noch liegt die Hoffnung auf dem Parlament, die Abstimmung des EU-Vertragspakets dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, was zwingend wäre, weil die Verfassung massiv tangiert ist.

Gleichzeitig ist es wichtig, die Menschen darauf zu sensibilisieren, was man bei Annahme des Vertragspakets verlieren und was es für die weitere Existenz der Schweiz als Souveräner Staat bedeuten würde. Die Befürworter versuchen, vor allem mit dem Argument des angeblich drohenden Wohlstandsverlusts die Verträge als zwingend notwendig anzupreisen, viel mehr Pfeile haben sie nicht im Köcher. Noch ist nichts verloren. Solange die direkte Demokratie besteht, wird auch in dieser Frage die Entscheidung beim Volk bleiben. ■

(Red.) Dieser Beitrag von Thomas Kaiser erschien zuerst in der Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus», Ausgabe 18 vom 4. Dezember 2025

Anmerkungen:

  1. Oliver Zimmer: Brüssel einfach? Hamburg 2025 ↩︎
  2. https://www.europa.eda.admin.ch/dam/en/sd-web/PGFF7KWbg388/%C3%9Cbersicht%20EU-Gesetzgebungsakte%20Paket%20CH-EU.pdf ↩︎
  3. https://www.europa.ch/themen/vertragspaket-schweiz-eu/vertragspaket-schweiz-eu-faktenblatt/ ↩︎
  4. https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/summary/european-union-directives.html ↩︎
  5. https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/summary/european-union-regulations.html ↩︎
  6. https://admin.iwp.swiss/wp-content/uploads/2025/10/2025-10-15_Richli_Referat_IWP-Text.pdf ↩︎
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