
«Die schweizerische Neutralitätspolitik verbindet seit je Herz und Verstand»
(Red.) In der Schweizer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» ist ein Interview mit dem Berner Professor Dr. Wolf Linder erschienen, das für alle Schweizer und Schweizerinnen äusserst lesenswert ist! Im Hinblick auf die Volksabstimmung über die Neutralitätsinitiative ist es wichtig, dass die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen zu diesem Thema gut informiert sind – und bereit sind, sich pro Neutralität zu engagieren. (cm)
Zeitgeschehen im Fokus: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat der Bundesrat in der Person von Ignazio Cassis verschiedene Bezeichnungen für die Neutralität kreiert: «flexible» Neutralität, «kooperative» Neutralität und Ähnliches. Wie definiert sich «Neutralität» staatspolitisch?
Prof. Dr. Wolf Linder: Es gibt eine Neutralität, die völkerrechtlich anerkannt ist. Der Leitbegriff ist: keine Gewalt des Staates gegen einen anderen und keine Unterstützung einer Kriegspartei. Die Schweiz folgte diesem Grundsatz seit 200 Jahren. Die Friedensidee ist das Grundlegende der Neutralität. Die Spezifizierungen sind weniger wichtig als die konkrete Neutralitätspolitik, die nicht immer einfach war.
ZiF: Muss sich der neutrale Staat nicht an die Haager Abkommen über die Neutralität halten?
Wolf Linder: Die Haager Abkommen gelten selbstverständlich immer noch, sind aber weniger von Bedeutung, weil von der Uno das Neutralitätsrecht weiterentwickelt worden ist, was in der Uno-Charta kulminiert. Das Entscheidende bleibt die Frage der konkreten politischen Ausgestaltung.
ZiF: Eine Volksinitiative will die Neutralität in der Verfassung verankern, die dem Bundesrat vorschreibt, die nötigen Massnahmen zu ergreifen, um die Neutralität zu erhalten. Warum braucht es dann noch die Verfassungsinitiative?
Wolf Linder: Neutralität ist seit 200 Jahren der wichtigste aussenpolitische Grundsatz, der so nicht in der Verfassung steht. Historisch war das sinnvoll, denn man war der Auffassung, für die Aussenpolitik sei allein der Bundesrat zuständig, und er sorge für die Einhaltung der Neutralität. Heute ist das nicht mehr haltbar. Der wichtigste Grundsatz verdient es, Eingang in die Verfassung zu finden. Das ist aber nicht nur Kosmetik. Wenn nämlich die Grundzüge der Neutralität in der Verfassung stehen, dann ist ihre konkrete Umsetzung der Willkür und der freien Interpretation des Bundesrats entzogen. Es existieren dann klare Richtlinien. Es ist auch ein Signal nach aussen: ein klares Zeichen dafür, dass wir ein neutrales Land sind. Was nach der Übernahme der EU-Sanktionen durch den Bundesrat vor drei Jahren passiert ist, soll nicht mehr vorkommen. Damals erklärten sowohl Putin als auch Biden in seltener Übereinstimmung, die Schweiz sei nicht mehr neutral.
ZiF: Hat sich die Politik der Schweiz in den letzten Jahrzehnten immer weiter von den Grundsätzen der Neutralität entfernt?
Wolf Linder: Die geschichtliche Entwicklung ist spannend. Neutralität ist nicht in Stein gemeisselt. Die Neutralitätspolitik muss sich in gewissen Situationen auch der Macht von Drittstaaten beugen. Im Zweiten Weltkrieg etwa hielt die Schweiz an der Neutralität fest. Trotzdem machte die Regierung neutralitätswidrige Zugeständnisse an Hitler-Deutschland, etwa bei der Durchfuhr von Kriegsmaterial oder im Gold- und Devisenhandel.
Solche Verletzungen der Neutralität wurden im Nachhinein stark kritisiert. Zu beachten ist allerdings, dass die Schweiz rund herum eingekesselt und von den umliegenden Ländern abhängig war, um zum Beispiel Brennstoff oder Lebensmittel zu erhalten.
Auch während des Kalten Kriegs hat die Schweiz sich neutral verhalten. Das stiess bei den USA nicht auf Gegenliebe. Sie hatten wenig Verständnis dafür, dass ein Kleinstaat im «freien Westen» auch gegenüber den Grossmächten unabhängig und neutral bleiben wollte. Sie forderten in einem vertraulichen Abkommen Ausfuhrbeschränkungen für kriegsrelevante Güter in den Ostblock.
Was jetzt im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg passiert, ist ein völliger Zerfall des staatspolitischen Denkens. Bundesrat Cassis, der es besser wissen sollte, hat die Neutralität als einen Sympathieartikel verkauft.
ZiF: Was meinen Sie damit?
Wolf Linder: Die Ukraine ist uns sympathisch, sie ist von Russland überfallen worden, da gab es Völkerrechtsverletzungen und so weiter, deshalb sind wir jetzt für den «Kleinen». Die Neutralität darf jedoch nicht von einer Moral der persönlichen Betroffenheit bestimmt werden. Schweizerische Neutralität ist etwas ganz anderes: eine Friedensethik. Sie versucht, die eigene Unabhängigkeit ohne Krieg und ohne Beteiligung am Krieg zu bewahren, und sie bemüht sich, im Konflikt zwischen Drittstaaten mit ihren Guten Diensten Frieden zu vermitteln. Um als Vermittler wirken zu können, muss man für beide Parteien glaubwürdig sein. Das hatte Bundesrat Cassis offenbar völlig vergessen.
Die Neutralität ist nicht einfach, aber sie ist kein Abseitsstehen der Schweiz, im Gegenteil. Seit je leistet sie humanitäre Hilfe. Zum Beispiel im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bei der Internierung der geschlagenen französischen Bourbaki-Armee, das waren über 80 000 Menschen. Während des Zweiten Weltkriegs nahm sie Flüchtlinge auf; nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die sogenannten «Schweizer Kinder», Kinder aus Europa, die unterernährt waren und zur Erholung in die Schweiz kamen, um wieder zu Kräften zu kommen. (Siehe dazu die Anmerkung am Ende des Artikels. Red.)
Während des Kalten Kriegs, beim Ungarnaufstand oder beim Prager Frühling, gewährte sie Tausenden von Flüchtlingen Zuflucht; heute sind es die Flüchtenden aus der Ukraine. Damit verbindet die schweizerische Neutralitätspolitik seit je Herz und Verstand: Solidarität mit den Kriegsopfern beider Seiten, aber keine Solidarität mit einer der Regierungen der Kriegsparteien. Diese Unterscheidung ist wichtig. Wäre die Neutralität zum Beispiel im Ersten Weltkrieg als blosser «Sympathieartikel» verstanden worden, dann hätte die Deutschschweiz zu den Deutschen und die Romandie zu Frankreich gehalten. Das Land wäre zerrissen worden.
ZiF: Sehen wir nicht etwas Ähnliches in der Ukraine?
Wolf Linder: Ja, im gewissen Sinne schon. Der russischsprachige Teil fühlt sich zu Russland zugehörig, der ukrainisch sprechende Teil zum Westen. Wäre das Land neutral, hätten wir den Krieg mit Sicherheit nicht. So wird das Land zerrissen. Die Neutralität wäre eine Lösung gewesen. Sie stand auch in der ukrainischen Verfassung, doch den Artikel hat das Parlament 2014 aufgehoben und 2018 das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft in die Verfassung aufgenommen. Die Neutralität der Ukraine war ein Aspekt der Verhandlungen mit Russland, die kurz nach Beginn des Krieges stattfanden. Der Westen wollte das aber nicht.
ZiF: Die Schweiz ist 1996 der NATO-Unterorganisation Partnerschaft für den Frieden oder auf Englisch Partnership for Peace (PfP) beigetreten, die gegründet wurde, um später Staaten einmal als Vollmitglieder in die NATO aufzunehmen. Hat die Schweiz sich unter dem Aspekt der Neutralität damit in die falsche Richtung bewegt?
Wolf Linder: Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es die Vorstellung eines grossen Europas zusammen mit Russland. Da verlor die Neutralität für manche Politiker an Relevanz. Die USA wollten das Zusammenrücken Gesamteuropas aber nicht. Geopolitisch empfinden sie das als eine Bedrohung, wenn Russland und Westeuropa einen Block bilden. Das haben die USA verhindert. Das ist einer der Gründe für die Osterweiterung der NATO.
Aber jetzt zur Frage NATO, PfP und Neutralität. Es fügt sich ins geopolitische Schema, dass es der NATO lieb wäre, wenn Österreich und Irland ihre Neutralität aufgeben würden. Auf beide Regierungen kann man Druckversuche beobachten. In der Schweiz haben wir Druck auch von innen, von Personen, die gerne eine wichtigere Rolle spielen wollen. Sie finden sich im Militärdepartement, bei Modernisten und Internationalisten, auch bei EU- und NATO-Anhängern unserer Polit-Eliten. Sie wissen zwar, dass ein NATO-Beitritt beim Volk keine Chance hätte.
Aber mit Interoperabilität, kollektiver Sicherheit, und wie die Begriffe alle heissen, wollen sie näher an die NATO heranrücken. Möglicherweise ist es gar nicht mehr nötig, dass wir der NATO beitreten, wenn wir heute schon von den Fliegern bis zu den Abwehrraketen in der NATO integriert sind. Dieses Vorgehen könnte ähnlich ausgehen wie mit der EU: Wir sind nicht Mitglied, aber wir setzen die Vorschriften aus Brüssel schneller und getreuer um als manches EU-Mitglied.
ZiF: Wozu soll sich die Schweiz der NATO (weiter) annähern, und was sagt die Verfassung dazu?
Wolf Linder: Ich kann schon nachvollziehen, dass heute manche denken, unsere Armee sei stärker unter dem gemeinsamen Schirm der NATO. Aber unsere Armee hat einen anderen Auftrag: die Verteidigung des eigenen Territoriums. Die NATO ist heute ein kriegerischer Verein und macht etwas ganz anderes, als zu verteidigen. Sie interveniert ausserhalb des eigenen Territoriums und ohne angegriffen worden zu sein.
Das hat begonnen mit den Bombardierungen in Ex-Jugoslawien, und dieses Vorgehen hat sich vor allem in Afghanistan, dann im Irak und Libyen fortgesetzt. Ich möchte gerne wissen, wieviele Schweizer Mütter und Väter bereit wären, ihre Söhne und Töchter zu einem kriegerischen Abenteuer nach Afghanistan zu schicken. Wenn wir uns der NATO weiter annähern, geben wir den Schlüssel für die Sicherheit unseres Hauses ab. Wir haben dann keine eigene selbstbestimmte Sicherheit mehr, sondern eine geborgte.
Der Schlüssel liegt dann bei der NATO, und wir müssen dort das mitmachen, was von uns verlangt wird. Keine gute Idee. Das tangiert im höchsten Masse unsere Neutralität, aber auch die Souveränität. Man kann nicht beides haben, Neutralität und NATO, das schliesst sich aus.
ZiF: Eine verstärkte NATO-Annäherung würde zum Verlust eines zweihundert Jahre alten aussenpolitischen Grundsatzes führen. Die Mehrheit der Bevölkerung will aber, dass die Schweiz ein neutraler Staat bleibt.
Wolf Linder: Ja, aber die Neutralität kostet etwas. Wir sind Teil des westlichen Wirtschaftssystems, haben ähnliche Kulturen, eine demokratische Staatsform, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, und so weiter. Wenn wir jetzt sicherheitspolitisch nicht mitmachen, dann braucht es Standfestigkeit. Die NATO ist der militärische Arm der USA, um ihre Vorherrschaft zu perpetuieren. Die USA werden versuchen, auf alle Länder Druck auszuüben, damit ihre eigene Vorherrschaft erhalten bleibt. Dass man davon Abschied nehmen müsste, geht den Menschen nicht so schnell in den Kopf.
ZiF: Die Schweiz gehört zwar zu Europa, aber müsste sie nicht längstens mit anderen Regionen der Welt enger zusammenarbeiten?
Wolf Linder: Europa beheimatet noch etwa acht Prozent der Weltbevölkerung und 15 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Die grossen Märkte liegen ausserhalb Europas. Aussenwirtschaftlich soll man sich darum nicht nur auf den Westen ausrichten, sondern wie bisher mit allen Ländern gute Beziehungen anstreben. Dabei kann die Neutralität Vorteile bieten. So war die Schweiz eines der ersten westlichen Länder, das die Volksrepublik China anerkannte – zum Vorteil beider. Man kann natürlich einwenden, dass das reine «Geschäftlimacherei» sei, wie wir in der Schweiz sagen.
Ich bestreite das. Eine faire Aussenwirtschaftspolitik nimmt Rücksicht auf die Interessen von Entwicklungsländern und bietet faire Handelsbeziehungen, die zur Selbständigkeit führen. Solche Forderungen – wie wir sie zum Beispiel in der Konzernverantwortungsinitiative sehen – werden künftig immer wichtiger. Faire Aussenhandelspolitik hilft beiden Teilen, den Entwicklungsländern wie auch dem eigenen Land. Es ist aber nicht nur eine wirtschaftliche Frage, sondern eine Frage des Verhaltens gegenüber anderen, uns fremden Kulturen. Neutralität hilft, diese zu verstehen und ihnen mit Respekt zu begegnen.
ZiF: Die Schweiz wird immer mal wieder gerügt, dass sie nur auf ihren Vorteil bedacht sei …
Wolf Linder: Ja, ja, Rosinenpicker. Aber letztlich ist jedes Land ein Rosinenpicker. Es gibt EU-Kritiker, die sagen, es gebe keine EU, sondern es seien nur Mitglieder, die alle auf ihr eigenes Interesse schauen. Das ist legitim, aber es bedeutet auch, dass die EU nicht das ist, was sie zu sein vorgibt. Die Behauptung, die Neutralität sei nur für die Reichen und um grosse Geschäfte zu machen, ist Unsinn.
Mag sein, dass einige das ausnutzen. Aber es ist ein kapitaler Fehlschluss zu glauben, ohne Neutralität gäbe es weniger einseitige Profit-Geschäfte. Man muss ja nur beobachten, wie weltweit die Schere der Einkommen und Vermögen zwischen den Wohlhabenden und den «Habenichtsen» immer grösser wird.
ZiF: Die Gegner der Initiative wollen die Neutralität am liebsten negieren und argumentieren, dass unter den EU-Staaten kein Krieg mehr geführt werde und daher die Neutralität obsolet sei.
Wolf Linder: Die Neutralität muss man in der geopolitischen Entwicklung betrachten, auch wenn es immer wieder heisst, die Neutralität der Schweiz sei nur für Europa relevant. Da muss man dringend umdenken.
Nicht nur liegen die grossen Märkte ausserhalb Europas, auch die geopolitische Vorherrschaft der USA wird eines Tages zu Ende sein. Unsere Neutralität muss daher global verstanden werden. Das heisst: glaubwürdig gegenüber allen Ländern, Entwicklungsländern, aber auch gegenüber autoritären Staaten oder Ländern, die andere Wertvorstellungen haben wie zum Beispiel der Iran. Neutralität darf sich, wie erwähnt, nicht von der Sympathie leiten lassen.
Was zählt, ist allein die Glaubwürdigkeit. Wenn man aber nicht mit gleicher Elle misst wie zum Beispiel bei Russland und Israel oder gegenüber den zahllosen Völkerrechtsverletzungen der USA, dann sehen wir, dass man sich relativ feige gegenüber der Macht verhält. Die Uno-Charta und das Gewaltverbot verlangen dagegen, dass man Völkerrechtsverletzungen mit gleicher Elle misst.
Das heisst nicht, dass die Schweiz in der Uno bei jeder Völkerrechtsverletzung aufstehen muss, um das anzuprangern, aber sie muss es bei den schwerwiegenden Fällen – und das ist wichtig – gegenüber allen Staaten tun. Mit anderen Worten: nicht gegen alles, aber gegen alle Seiten. Wenn man sieht, was Israel im Gaza-Streifen macht, ist das Schweigen des Bundesrats unglaublich.
ZiF: Wie muss sich eine neutrale Schweiz bei Sanktionen verhalten?
Wolf Linder: Die Initiative sagt, dass wir keine wirtschaftlichen Sanktionen von anderen Ländern oder der EU unterstützen, sondern nur noch diejenigen der Uno. Das bedeutet eine Einschränkung der Befolgung internationaler Sanktionen. Das ist eine gewollte Einschränkung in der Aussenpolitik, und die ist sinnvoll. Im Moment unterstützt die Schweiz 27 Sanktionen, 13 davon sind von der Uno erlassen und 14 hat die EU verhängt. Heute leben wir in einer Welt der Sanktionitis.
Es gibt Hunderte von Sanktionen. Durch Sanktionen sterben pro Jahr über eine halbe Million Menschen. Man stelle sich das vor: Das übersteigt die Zahl der jährlichen Kriegsopfer. Sanktionen sind ein Kriegs- und kein Friedensinstrument.
In der Literatur gibt es fünf Punkte, die die fragwürdigen Wirkungen von Sanktionen beschreiben.
1. Sie treffen nicht die Regierungen, sondern das einfache Volk.
2. Sie führen nicht selten zu einer Solidarisierung des Volks mit seiner Regierung wie beispielsweise in Kuba.
3. Das Hauptziel von Sanktionen, nämlich ein «Regime change», wird selten erreicht.
4. Sanktionen verlängern den Konflikt und erschweren seine friedliche Beilegung.
5. Zu oft stützen sich Sanktionen nicht auf das internationale Recht, sondern auf das Recht des Stärkeren.
Was die Schweiz verhindern muss, sind die Umgehungsgeschäfte. Des weiteren bleibt sie frei, selbst Sanktionen zu erlassen. Als Neutraler sollte sie das aber nur in Extremfällen tun und die Wirkungen sorgfältig abwägen.
ZiF: Was wäre die Schweiz ohne Neutralität?
Wolf Linder: Nicht umsonst hat Sergej Lawrow die Schweiz nach Übernahme der Russland-Sanktionen als einen unfreundlichen Staat bezeichnet und damit eine Absage für mögliche Friedensverhandlungen erteilt. Die Schweiz könnte also ihre Position als glaubwürdiger Vermittler in vielen internationalen Konflikten verlieren.
Und innenpolitisch? Es gibt Menschen, die sagen, die Neutralität sei in der DNA der Schweiz «genetisch verankert». Ich würde nicht so weit gehen, aber sie ist anerkannt, ist plausibel und wird von einem überwiegenden Teil der Bevölkerung befürwortert. Was wären wir ohne Neutralität? Ein Uhrenland, ein Bankenland, ein Schoki- oder Käseland, ein Heidiland oder ein Tourismusland?
Was wir oft unterschätzen: Die Neutralität bildet eine wichtige Klammer für die Zusammengehörigkeit der Menschen verschiedener Sprachen, Regionen und Kulturen in unserem Land. Dieser Zusammenhalt bröckelt. Doch Neutralität hilft, ihn symbolisch und emotional zu erhalten. Ich möchte darum als Schweizer nicht auf die Neutralität verzichten.
ZiF: Herr Professor Linder, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Thomas Kaiser.
Anmerkung der Redaktion: Die von Professor Linder erwähnte „Gesundfütterung“ nach dem Zweiten Weltkrieg von Kindern aus kriegsgeschädigten Familien in der Schweiz ist dem Herausgeber der Online-Plattform «Die Schweiz – online», Christian Müller, bestens bekannt: Auch er ist in einer Familie aufgewachsen, in der nach dem Zweiten Weltkrieg über mehrere Jahre solche Kinder jeweils drei Monate lang „gesundgefüttert“ wurden. Und nach dem „Prager Frühling“ 1968 beherbergten seine Eltern auch fast ein Jahr lang ein Ehepaar aus der Tschechoslowakei. Christian Müller ist seinen Eltern dankbar für diese Zeit – es war eine echte Lehrzeit!
Und noch ein Wort zu Professor Linders Aussagen zu den Sanktionen: Professor Linder hat absolut Recht! Sanktionen treffen nicht die Wohlhabenden und Reichen, diese finden immer einen Weg, ihren Reichtum in ein sicheres Revier zu verschieben. Sanktionen treffen immer vor allem die Unterschicht. Dass die Schweiz zum Beispiel in der Uno für die Sanktionen gegen die Krim gestimmt hat, ist eine echt traurige Geschichte. Christian Müller war persönlich mehr als einmal auf der Krim und hat dort im Gespräch mit der Bevölkerung sehen können, wer unter den Sanktionen leidet. Und er hat auch gesehen, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung die Wiedervereinigung der Krim mit Russland wirklich wollte, vor allem auch, weil die nationalistische Regierung der Ukraine den – russischsprachigen! – Menschen auf der Krim ihre Muttersprache austreiben wollte. Die neutrale Schweiz zeigt, dass ein Land auch mehrsprachig bestens funktionieren kann. Warum hat sie die extrem nationalistische Politik von Kiev so unterstützt? Siehe dazu Christian Müllers Analyse «Sanktionen treffen immer die Falschen: vor allem die Armen» vom 7. Juni 2021 auf Infosperber.
Danke herzlich, Herr Professor Linder, für Ihre ausgezeichneten Ausführungen zum Thema Neutralität! (cm)
Zum Originalartikel auf «Zeitgeschehen im Fokus» hier anklicken.