Kommentar | … für eine Schweizer Neutralität „je nach dem“ …
Difficile est satiram non scribere! Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben, schrieb Anfang unserer Zeitrechnung der römische Publizist Juvenal. Aber diese Situation gibt es auch heute noch, zwei tausend Jahre später! Zum Beispiel wenn man verlockt wird, die Schweizer Ausgabe der deutschen Wochenzeitung «DIE ZEIT» zu kaufen und für 10 Schweizer Franken 50 Rappen – oder also für 11 Euro 35 – nachgemessene 673 Gramm Papier erhält, obwohl der darin gesuchte Text gerademal auf einer Zeitungsseite oder also auf 15 Gramm Papier Platz hat. Und haben sich dann wenigstens die 10 Franken 50 Investition für 15 Gramm Papier gelohnt?
Nicht wirklich. Denn ich kaufte die Schweizer Ausgabe der «ZEIT» aufgrund einer mir zugespielten Information, es gebe darin ein Interview mit dem Schweizer Staatsrechtsprofessor René Rhinow. Und dieser René Rhinow war ja in guten Zeiten immerhin mal Verwaltungsratspräsident einer Schweizer Mediengruppe, deren CEO ich selbst war – also mein Vorgesetzter. Und das Interview betraf offenbar ein Buch, das dieser zwischenzeitlich in Pension gegangene Staatsrechtsprofessor geschrieben hat. Thema: die Schweizer Neutralität.
Und was lernte man da? Einige kurze Zitate aus dem Interview der ZEIT mit René Rhinow:
Rhinow: « … Also müssen wir uns eher fragen: Was machen wir mit der Neutralität? Was nützt sie uns – und der Welt?»
ZEIT: «Was also bringt die Neutralität der Schweiz?»
Rhinow: «Im Moment überhaupt nichts. Außer vielleicht fürs Branding in der weltweiten Friedensförderung.»
ZEIT: «Der politische Zeitgeist in der Schweiz geht aber genau in diese Richtung. Die SVP will mit einer Volksinitiative die Neutralität sogar in die Verfassung schreiben. Was hätte das für Konsequenzen?
Rhinow: «Das wäre verhängnisvoll. Wobei ich hoffe, dass das Schweizer Volk sieht: Das ist Humbug.»
ZEIT: «Immerhin kauft die Schweiz nun F-35-Kampfjets, die sich im Verteidigungsfall in die Nato-Strukturen integrieren ließen.»
Rhinow: «Ja, das ist richtig. Aber immer, wenn die Kooperation mit der Nato und der EU erwähnt wird, heißt es: ‘Soweit die Neutralität es zulässt’. Dabei wäre die richtige Formulierung: ‘Soweit wir dies für unsere Sicherheit brauchen.’ Das hieße, enger mit der Nato zu kooperieren, zu trainieren und nicht nur darauf zu hoffen, dass wir im Ernstfall von fremden Armeen geschützt werden.»
ZEIT: «Sie fordern deshalb eine flexiblere Auslegung der Neutralität.»
Rhinow: «Ja!»
ZEIT: «Wie wichtig ist die Neutralität heute für den inneren Zusammenhalt der Bevölkerung?»
Rhinow: «Null.»
Doch lassen wir jetzt das Zitieren. Wer die Ukraine selbst persönlich kennt, im Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes im Herbst 2021 gelesen hat, dass in der Ukraine jedes Jahr – jedes Jahr! – «-zig Milliarden US-Dollar» durch die Korruption verschwinden, wer zur Kenntnis genommen hat, wie Selenskyj alle oppositionellen Parteien verboten hat, seine eigene staatsrechtlich vorgeschriebene Erneuerungswahl abgesagt hat, ja sogar die heimische russisch-orthodoxe Kirche verboten hat, und wer, wie zum Beispiel konkret ich selbst, erleben musste, wie das in Kiew benutzte Hotel meiner Kreditkarte im Nachhinein eine vierstellige Euro-Summe (!) belastet hat, notabene aufgrund einer frei erfundenen, äußerst perfiden Geschichte, dem kehrt es den Magen, wenn er im Interview mit Staatsrechtsprofessor Rhinow den Satz lesen muss: «Wie wenig wir heute der Ukraine helfen, ist beschämend, Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock hin oder her.»
Aber wir haben für 10 Schweizer Franken und 50 Rappen in der Schweizer Ausgabe der deutschen Wochenzeitung «DIE ZEIT» zur Kenntnis nehmen dürfen, dass der pensionierte Staatsrechtsprofessor René Rhinow nun ein Buch über die Schweizer Neutralität geschrieben hat und dass er darin die Meinung vertritt, man müsse die Neutralität «flexibel» anwenden – in einem früheren Artikel brauchte er das Wort «okkasionell». Also neutral sein «je nach Gelegenheit».
Eine Frau ist entweder schwanger oder sie nicht schwanger, es gibt kein Zwischending. Genau so ist es mit der Neutralität. Eine «Neutralität je nach Situation» ist Unsinn. Und so kann man nach dem Interview mit René Rhinow für 10 Schweizer Franken 50 oder umgerechnet also 11 Euro 35 wenigstens die 39 Schweizer Franken – oder bei Amazon in Deutschland EUR 39.- – sparen, die man für das neue Buch von René Rhinow aus dem Schweizer Verlag «Hier und Jetzt» bezahlen müsste.
Und natürlich stimmen wir bei der Abstimmung zur Neutralitätsinitiative klar mit JA. Für eine Schweizer Neutralität, die in der Verfassung verankert ist.
Das Interview auf Seite der ZEIT führte Matthias Daum.
Siehe dazu auch «Die schweizerische Neutralitätspolitik verbindet seit je her Herz und Verstand» (von Prof. Dr. Wolf Linder)