«Recht statt Macht, das liegt in der Essenz der Schweiz»
(Red.) Der Bundesrat hat im Februar 2022 mit der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland die Schweizer Neutralität massiv beschädigt. Man darf davon ausgehen, dass dies nicht im Sinne der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung war. Das Thema Neutralität muss deshalb intensiv diskutiert werden, damit die zwischenzeitlich eingereichte Neutralitätsinitiative bei der bevorstehenden Abstimmung möglichst deutlich angenommen wird. – Ein Interview mit dem Schweizer Ex-Botschafter Jean-Daniel Ruch.
Kleine Vorbemerkung: Zuerst wurde eine falsche Version des Interviews mit Jean-Daniel Ruch online gestellt. Jetzt ist die richtige drin. Die Redaktion bittet um Entschuldigung. cm.
Henriette Hanke Güttinger: Seit einiger Zeit ist die Schweizer Neutralität unter Druck geraten.
Jean-Daniel Ruch: Ja, deswegen habe ich mit Freunden am 12. Dezember 2024 in Genf das «Genfer Zentrum für Neutralität» gegründet, das in der heutigen Welt die Unparteilichkeit fördern wird und es hoffentlich ermöglichen wird, heikle Themen wie künstliche Intelligenz und Nuklearwaffen in einem sicheren Rahmen in einer neutralen, konstruktiven Atmosphäre zu besprechen.
Macht das «Geneva Centre for Neutrality» auch Veranstaltungen?
Jean-Daniel Ruch: Ja, wir haben am 12. Dezember – das ist der internationale Tag der Neutralität der Uno – eine Veranstaltung gemacht an einem symbolischen Ort, im Haus von General Dufour. Er ist für mich die wichtigste Schweizer Persönlichkeit der letzten 200 Jahre und hat nach dem Sonderbundskrieg die moderne Schweiz mitbegründet. 1847 hat er als Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Sonderbundskrieg für seine Soldaten einen Befehl erlassen, die «Proclamation à l’armée». Dort findet man fast alles, was in den späteren Genfer Konventionen geschrieben steht. Man muss die Gefangenen, die Zivilisten, die Frauen und die Kinder schützen. Es gibt sogar Bestimmungen über den Schutz von Pfarrern und Priestern. Auch verletzte Soldaten muss man schützen und so weiter. Im Grunde genommen ist dieser Befehl die Basis des heutigen internationalen humanitären Völkerrechtes. An der Veranstaltung vom 12. Dezember waren auch die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, der ehemalige Schweizer Botschafter Paul Widmer und der ehemalige österreichische Botschafter Thomas Mayr-Harting dabei.
Wie sieht Ruth Dreyfuss die Frage der Neutralität?
Jean-Daniel Ruch: Ruth Dreyfuss würde sicher sagen, man muss auch die Flexibilität haben, Sanktionen zu übernehmen im Fall von Aggressionen oder von schweren Verletzungen des internationalen Rechtes. Sie ist auch kritisch gegenüber dem Bundesrat. Aber das Hauptproblem bei diesen Entscheiden des Bundesrates vom Februar 2022 zum Beginn des Ukrainekrieges ist nicht so sehr, dass der Bundesrat die Sanktionen der Europäischen Union übernommen hat, sondern wie der Bundesrat das gemacht hat und insbesondere wie er das kommuniziert hat, das heisst, sehr schlecht. Es ist nicht vertretbar, an einem Donnerstag zu sagen, wir übernehmen die Sanktionen nicht. Wir machen, was wir 2014 gemacht haben. Wir stellen sicher, dass die Schweiz nicht benutzt werden kann, um Sanktionen zu umgehen. Vier Tage später sagte der Bundesrat: «Nein, nein, jetzt übernehmen wir die Sanktionen der EU wegen der schwerwiegenden Verletzungen des internationalen Rechtes.» Aber die Völkerrechtsverletzungen waren schon am Donnerstag da. Also, was ist passiert an diesem Wochenende? Man vermutet, dass es Druck gegeben hat, wahrscheinlich direkt von den Amerikanern, wahrscheinlich von den europäischen Staaten, vielleicht auch von der Schweizer Privatwirtschaft. Diesem Druck konnte oder wollte der Bundesrat nicht widerstehen. Aber das sollte man dem Volk sagen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der Bundesrat denkt, man kann einfach kommunizieren, und das Volk wird folgen. Aber damit nimmt man die Schweizer ein bisschen als Idioten, das sieht man jetzt wieder bei der Krise im Verteidigungsdepartement. Die Schweizer haben in so vielen Abstimmungen bewiesen, dass sie denken können. Es gibt eine Maturität in der Schweizer Wählerschaft, die man nicht oft findet in der Welt, und das hat einen Grund. Wir müssen fast alle drei Monate über komplizerte Themen abstimmen. Die Folge dieser Art von Kommunikation des Bundesrates ist, dass das Vertrauen in ihn schwindet. Das hat man gesehen in den Abstimmungen zur AHV, zur 13. Rente und zu anderen Themen, wo die Schweizer gesagt haben «Nein, wir haben wenig Vertrauen zu dem, was der Bundesrat uns sagt.» Es braucht eine Mentalitätsänderung auf der höchsten Stufe, man muss Klartext reden. Im Falle der Neutralität oder auch der Sanktionen hätte man sagen müssen: «Schauen Sie, wir werden bedroht, das und das könnte passieren, was schwerwiegende Konsequenzen für unsere Wirtschaft oder gewisse private Firmen haben könnte. Deswegen müssen wir …», also das würden wir verstehen. Wir wollen alle unsere Interessen und das Interesse der Schweiz vertreten. Niemand will, dass die UBS, Nestle oder damals die Credit Suisse Tausende von Angestellten entlassen müssen. Man muss uns sagen, was das für Bedrohungen waren. Das ist für mich der grosse Vorwurf an den Bundesrat.
Sie haben den Internationalen Tag der Neutralität der Uno für die Gründung des «Geneva Centre for Neutrality» gewählt, weshalb?
Jean-Daniel Ruch: Symbole haben Wert, haben Gewicht. Der Internationale Tag der Neutralität der Uno und das Haus von General Dufour, eine wichtige Figur für die schweizerische Neutralität, sind bedeutende Symbole, die wir zusammenlegen wollten, um unser Zentrum – hoffentlich – unter einen guten Stern zu stellen.
Was plant das «Geneva Centre for Neutrality» für die Zukunft?
Jean-Daniel Ruch: In unserem Konzept gibt es drei Achsen. Eine erster Achse ist, in der Schweiz eine Debatte über die Neutralität zu unterstützen. Eine zweite Achse ist, weltweit ein Netzwerk zu schaffen mit ähnlichen Institutionen in Ländern, die sich auch nicht als Teil eines Machtblockes sehen. Drittens wollen wir insbesondere das Thema der künstlichen Intelligenz untersuchen mit all den neuen Herausforderungen durch die technologischen Fortschritte im digitalen Bereich, ein Thema, das auch Auswirkungen auf unsere Wirtschaft hat. Wir planen eine nächste kleine Konferenz oder ein Seminar zum Thema «Neutralität und das Bankwesen der Schweiz», mit Leuten, die im Bankenbereich tätig sind. Geplant ist eine Reihe von Konferenzen, die öffentlich sind, so auch mit der „Ecole polytechnique fédérale de Lausanne“.
Das Aussendepartement EDA hat sich im Januar 2025 bereit erklärt, ein Gipfeltreffen zwischen Trump und Putin zu organisieren. Die beiden ziehen jedoch Verhandlungen in Saudiarabien vor, einem Land, das vermutlich den regierungskritischen saudiarabischen Journalisten Jamal Kashoggi 2019 in der saudischen Botschaft in Istanbul umbringen liess. Warum finden Vermittlungsgespräche nicht in der Schweiz, sondern in Katar oder Saudi-Arabien statt?
Jean-Daniel Ruch: Ich kannte Jamal Kashoggi persönlich und war tief betroffen, das war wirklich ein Schock. Wir leben in Zeiten der Realpolitik, und nicht in Zeiten des internationalen Rechtes einer zukünftigen Wertegemeinschaft, leider. Mohammed bin Salman MbS hat mit Erfolg enge Beziehungen zu beiden Seiten geschaffen. Saudi-Arabien konnte sich – ein bisschen wie die Türkei – gleichzeitig als Partner der Amerikaner und der Russen positionieren. Mit den Russen gibt es häufige Kontakte. Es geht um die Produktion von Öl und um die Ölpreise. Russland und Saudi Arabien sind die zwei wichtigsten Ölproduzenten der Welt. Trump hatte schon in seiner ersten Amtszeit sehr enge Beziehungen zu Saudi-Arabien. Seine erste Reise ins Ausland führte nach Saudi-Arabien. Die Saudis haben für hunderte von Milliarden Dollars Waffen gekauft von Amerika. Diese Beziehungen sind sehr, sehr eng. Wenn man mit einem Feind reden will, will man sich an einem Ort treffen, wo man Vertrauen hat zum Gastgeber. Ich glaube, dass sie deswegen nach Saudi-Arabien gegangen sind. Vielleicht hätten sie auch in die Türkei gehen können, die Anfang 2022 zwischen Russland und der Ukraine vermittelt hat. Früher hatte die Schweiz als Ort von Verhandlungen einen grossen Vorteil. Wir haben insbesondere in Genf eine ausgezeichnete Infrastruktur. Es hat einen Flughafen, sehr gute Hotels und grosse diplomatische Vertretungen dort, um Verhandlungen zu organisieren. Aber jetzt hat Genf dieses Monopol nicht mehr. Länder wie Saudi-Arabien oder Katar können dieselben Infrastrukturen zur Verfügung stellen. Es kommt noch etwas dazu, und das ist die Rolle der politischen Führer. MdS hat nicht nur eine enge, persönliche Beziehung zu Putin und auch zu Trump, sondern auch mit deren Entourage, und das spielt eine Rolle. Unsere Politiker haben weder eine persönliche Beziehung zu Putin noch zu Trump. Ueli Maurer hatte so etwas. Er war der einzige von allen Bundesräten, der als Präsident offiziell im Weissen Haus empfangen worden ist. Er war auch der einzige, der während seinem Präsidialjahr die drei Supermächte auf der höchsten Stufe besucht hat, Xi Jin-ping, Trump und Putin. Ueli Maurer war schon erstaunlich, irgendwie konnte er so einen Kontakt herstellen. Aber mit dem jetzigen Bundesrat, ich wüsste nicht, wer so einen Draht hat zu Putin oder zu Trump, ich glaube, das spielt auch eine Rolle.
Spielt es auch eine Rolle, wie sich der Bundesrat im Ukrainekonflikt positioniert hat?
Jean-Daniel Ruch: Putin in der Schweiz zu empfangen, das geht nicht. Er ist angeklagt beim Internationalen Strafgerichtshof ICC, und es gibt einen Haftbefehl gegen ihn. Es ist wichtig, dass die Schweiz ihre Verpflichtungen gegenüber dem internationalen Recht und dem ICC erfüllt, zu dessen Gründung die Schweiz beigetragen hat. In den neunziger Jahren war die Schweizer Diplomatie intensiv aktiv im Zusammenhang mit dem ICC auf der Basis des Jugoslawien- und des Ruandakriegstribunals. Wir haben uns sehr engagiert. Jetzt zu sagen, im Falle von Putin machen wir eine Ausnahme, das wäre falsch. Was man vielleicht machen könnte, wäre den Gerichtshof zu fragen, ob während der Friedensverhandlungen der Haftbefehl für das Gebiet der Schweiz suspendiert würde. Aber uns allein zu entscheiden, ‚ja, ja, Putin kann kommen–‘ dann haben wir am nächsten Tag Netanjahu. Also da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Die Saudis oder die Türken haben diese Probleme nicht.
Wie würden Sie Neutralität umschreiben?
Jean-Daniel Ruch: Die Neutralität ist wie eine Rakete mit drei Stufen. Die erste Stufe ist das Neutralitätsrecht. Wir dürfen keiner der Kriegsparteien militärische Vorteile gewähren. Die zweite Stufe ist die Neutralitätspolitik. Da entscheidet der Bundesrat ziemlich frei, ob wirtschaftliche Sanktionen ergriffen werden oder nicht. Die dritte Stufe ist die Perzeption, die Wahrnehmung der Neutralität. Natürlich beeinflusst Stufe 2 die Stufe 3. Im Falle der Ukraine frage ich mich immer, was passiert wäre, wenn an diesem Wochenende, nachdem der Bundesrat geheim entschieden hatte, die Sanktionen zu übernehmen, Bundesrat Cassis jemanden nach Moskau geschickt hätte, um zu sagen:«Ja, das wollen wir nicht, aber schauen Sie, der Druck ist so gross, wir haben keine Wahl.» Ich glaube, die Russen hätten das verstanden. Aber wie der Bundesrat das gemacht hat, das hat den Russen nicht gefallen. Jetzt sagen sie, wir seien nicht mehr neutral. Auf Expertenebene – offensichtlich nicht so hochkarätig – gibt es immer noch Treffen in der Schweiz, insbesondere in Genf 2023 auch über die Ukraine und auch über nukleare Sicherheit. Ich glaube, was wichtig ist in Genf, und was es nicht gibt in der Türkei oder in Saudi-Arabien, das sind diese riesigen diplomatischen Missionen. Die machen die Organisation von Treffen sehr einfach. Vielleicht ist es in Genf oder in der Schweiz auch einfacher, diskrete Treffen zu machen. Man kann uns vertrauen, dass wir diese Diskretion, diese Geheimhaltung beibehalten werden. In der Türkei, in Saudi Arabien – ich bin nicht sicher – ist das vielleicht ein bisschen komplizierter. Wir haben noch einige Vorteile, aber mehr auf Expertenebene als auf der politischen Stufe.
In den Ländern des Südens wird die Schweiz nicht mehr als neutral wahrgenommen. Wie könnte die offizielle Schweiz diesen Schaden beheben?
Jean-Daniel Ruch: Wir haben zwei Probleme. Ein Problem ist Ukraine – Russland, und ein Problem ist der Mittlere Osten. Im israelisch-palästinensischen Kontext haben wir in den letzten Jahren systematisch die Position der israelischen Regierung übernommen. Was die UNRWA anbelangt, was die Hamas anbelangt und was die Anerkennung eines palästinensischen Staates anbelangt sind wir wirklich total «Likudnik» geworden. Das sehe ich, und ich weiss es eigentlich auch. Ich habe 2020, als ich Botschafter in Israel war, darüber einen Bericht geschrieben: «Beeinflussungsoperationen Israels in der Schweiz». Das war gemeint als eine Warnung. Eigentlich habe ich ein Szenario beschrieben, das sich unterdessen verwirklicht hat. Die strategische Führung liegt beim israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten, das ein Budget von 75 Millionen für solche Operationen hat. Dieses Geld fliesst über gewisse NGOs, insbesondere «UN-Watch» und «NGO Monitor», um die Medienlandschaft und Parlamentarier zu beeinflussen.
Und was sind die Ziele?
Jean-Daniel Ruch: Ziel 1 ist die UNRWA zu zerstören, Ziel 2 ist, dass wir die Hamas als Terrororganisation bezeichnen, Ziel 3 ist, dass wir die Hisbollah als Terrororganisation bezeichnen und viertens, dass wir unseren Beziehungen mit dem Iran schaden. Es geht genau in diese Richtung. Ziel 1, UNRWA, und Ziel 2, Hamas, sind schon fast erreicht und Ziel 3, Hisbollah, wird sicher auch erreicht. Die Palästinenser und die anderen arabischen Staaten sehen natürlich, dass wir in diesem Kontext nicht neutral geblieben sind.
Ist ihr Bericht öffentlich zugänglich?
Jean-Daniel Ruch: Nein. Ich habe den Bericht nicht mehr. Aber ich weiss, dass gewisse Journalisten diesen Bericht gefunden haben. Aber vielleicht schauen Sie im Internet. Es gibt ja auch das Transparenzgesetz.
Weshalb verfolgt Bundesrat Cassis eine solche Politik?
Jean-Daniel Ruch: Ich weiss nicht, was der Grund ist. Aus irgendeinem Grund reagiert er auf diese Einflüsse der Likud-Lobby in der Schweiz. Kennen Sie die parlamentarische Freundschaftsgruppe Schweiz-Israel? Ich habe mich immer gefragt, wieso ist diese Gruppe die grösste Freundschaftsgruppe im Parlament, und wieso finden es so viele Parlamentarier wichtig, in dieser Gruppe zu sitzen? Es gibt einen Sekretär dieser Gruppe, Herr Büchi. Er ist für ein Grossisrael. Er sagt, es ist perfekt und legal, dass Israel das besetzte Palästinensische Gebiet annektiert und so weiter. Ich kenne seine Motivation nicht, und ich kenne ihn nicht persönlich. Aber ich weiss, dass er sehr tätig ist, und dass er einen direkten Draht zu Bundesrat Cassis hat. Es ist auch interessant, dass das Ziel dieser Gruppe offiziell so beschrieben wird: «Die Gruppe vertritt israelische Positionen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur.»
In unserem Parlament?
Jean-Daniel Ruch: Von unseren Parlamentariern. Ich habe immer gemeint, unsere Parlamentarier sollten die Schweizer Interessen vertreten. In der Schweiz haben wir immer noch keine Transparenz bei den Finanzierungen von Politikern oder von politischen Parteien. Bis zu 15 000 Franken muss man nicht sagen, wer einem das Geld gegeben hat. Was wir brauchen ist eine charismatische oder starke Persönlichkeit als Aussenminister nach Cassis. Es braucht eine Persönlichkeit mit Prinzipien und einem Kompass, konsequent ausgerichtet am internationalen Recht, am Völkerrecht, an der Uno-Charta und allen Resolutionen des Sicherheitsrates, aber auch am Kriegsrecht, am humanitären Völkerrecht, an den Genfer Konventionen und so weiter.
Das wäre ja eigentlich der neutrale Standpunkt.
Jean-Daniel Ruch: Ja, ganz genau. Aber die politische Dimension ist wichtig, weil die SVP natürlich völlig auf der Seite der Likud-Regierung ist. Es wird eine starke Persönlichkeit brauchen, die die Leadership ausüben kann gegenüber dem Parlament und sagen kann: «Nein, nein, liebe Parlamentarier, Neutralität, das heisst, man muss neutral sein. Man muss nicht nur neutral sein im Kontext Ukraine – Russland, man muss auch neutral sein im Kontext Israel – Palästina, um glaubwürdig zu sein.»
Was können wir als Schweizerinnen und Schweizer beitragen, dass wieder eine neutrale Aussenpolitik verfolgt wird?
Jean-Daniel Ruch: In der Schweiz hat man als Bürger viele Handlungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist es sehr einfach, seinem Bundesparlamentarier zu schreiben. Man kann entsprechende Kampagnen machen. Man kann auf der kantonalen Ebene wirken. Zum Beispiel hat der Kanton Genf eine kantonale Initiative gemacht – die Kantone haben die Macht, in Bundesbern eine Initiative vorzuschlagen – um zu verlangen, dass die Schweiz Palästina als Staat anerkennt. Wenn das plötzlich 10 Kantone tun, könnte das einen Unterschied machen. Der Bürger kann auch schauen, welche Schweizer Firmen im Palästinakonflikt von der völkerrechtswidrigen Besatzung profitieren oder die Besatzung unterstützen. Aufgrund des Transparenzgesetzes könnte man zum Beispiel Einblick verlangen in alle Sicherheitskooperationen zwischen der Schweiz und Israel. Journalisten nutzen das Transparenzgesetz. Im Prinzip kann das jeder Bürger machen. Es gibt einen Dienst in Bern, wo man zum Beispiel fragen kann: «Kann ich alle Berichte der Schweizer Botschaft in Israel der letzten zehn Jahre haben?» Sie werden vermutlich sagen: «Nein, nein, die sind vertraulich.» Aber sie müssen die Anfrage zumindest beantworten. Es geht auch um die Anwendung des internationalen Rechtes. Der Internationale Gerichtshof, nicht der Strafgerichtshof, hat im letzten Sommer einen ‚avis consultatif‘, ein Gutachten, verabschiedet, das besagt, dass die israelische Besatzung illegal ist. Früher hat man immer gesagt, die Besatzung ist nicht illegal, aber das, was unter der Besatzung passiert, ist illegal, zum Beispiel das Siedlungsunternehmen. Jetzt ist die Besatzung illegal. In diesem Gutachten werden alle Staaten aufgefordert, jegliche Unterstützung für die Besatzung zu stoppen. Wenn wir für 300 Millionen Drohnen von der israelischen Rüstungsindustrie kaufen, dann wird sicher auch ein Teil dieses Geldes gebraucht, um Dinge zu produzieren, die für die illegale Besatzung gebraucht werden. Wenn wir das Spionagesystem Pegasus kaufen, unterstützen wir auch ein System, das die palästinensische Bevölkerung unterdrückt. Die Drohnen wurden entwickelt, um Gaza zu überwachen. Deswegen funktionieren sie nicht in der Schweiz. Es gibt keine Berge in Gaza, und es ist dort ein bisschen wärmer als in den Alpen. Solche Fragen kann man stellen. Wenn sich immer mehr Leute dafür interessieren, dann wird dies auch langsam eine Wirkung haben. Ich glaube, dass man auf diese Weise öffentliche Arbeit machen kann. Die Bürger in der Schweiz haben viele Möglichkeiten zu agieren. Dann gibt es natürlich auch noch die Neutralitätsinitiative, über die wir vermutlich im nächsten Jahr abstimmen werden.
Die Initiative wird vom Bundesrat abgelehnt.
Jean-Daniel Ruch: Ja, es gibt wichtige Kräfte, die die Initiative ablehnen, der Bundesrat, die Parteien des Zentrums und ein Teil der Linken. Diese ist in dieser Frage ziemlich gespalten. Auf der einen Seite ist es für sie ein bisschen schwierig, eine Initiative der SVP zu unterstützen. Auf der anderen Seite sehen sie schon, dass die Politik des Bundesrates, die westlichen Sanktionen zu übernehmen, besonders die amerikanischen, und damit einfach den Amerikanern zu folgen, falsch ist. Das sehen jetzt auch die meisten Leute. Nach einem Monat mit Trump sieht man, dass unsere Interessen natürlich nicht den Interessen der Amerikaner entsprechen, die 6000 Kilometer von uns entfernt leben. Wir haben auch einiges gelernt. Als Trump alle Gelder für die USAID suspendierte, haben wir plötzlich festgestellt, wie USAID für Beeinflussungsoperationen genutzt wird. Man sagt immer, die Russen machen Beeinflussoperationen, aber genauso machen das die USA, aber mit so viel mehr Mitteln, dass man nicht einmal denkt, das könnte auch eine Beeinflussungsoperation sein. Trump hat auch die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Europa kritisiert, die gelitten hat, zuerst im Zusammenhang mit Covid und nachher mit der Ukraine.
Indem man versucht hat, die Andersdenkenden zum Schweigen zu bringen?
Jean-Daniel Ruch: Ja, genau. Für mich hat dabei die Neue Zürcher Zeitung eine ganz schlimme Rolle gespielt. Sie bezeichnet sich als «freisinnig». Aber wie die NZZ Andersdenkende kritisiert und ihnen kaum Raum gibt in den Kolumnen, das ist gar nicht die freisinnige Haltung. Ich wurde von der NZZ kritisiert, weil ich einmal an einer Debatte mit dem russischen Botschafter teilgenommen habe. Aber ich meine, das muss man tun, die Debatte ist wichtig. Ich wurde als Putinversteher bezeichnet. Schon das Konzept «Putinversteher» ist so dumm. Ich habe gedacht, die Kultur des Dialogs und der Debatte gehört zum Wesen des freisinnigen Denkens.
Ja, das ist das Wesen des ursprünglichen Freisinns, der 1848 an der Gründung der demokratischen Schweiz mitbeteiligt war.
Jean-Daniel Ruch: Aus irgend einem Grund gibt es bei der NZZ scheinbar eine tiefgreifende Russophobie.
Ist dies der Fall, seit Eric Gujer Chefredakteur ist?
Jean-Daniel Ruch: Nein, früher schon. 1853 gab es den Krimkrieg. Die Engländer und die Franzosen hatten Angst, dass die Russen Istanbul erobern. Deswegen schickten sie Soldaten nach Sewastopol und in die Krim, um die russischen Truppen zu besiegen und zu verhindern, dass diese nach Istanbul kommen. 1853 hat die NZZ einen Artikel geschrieben, in dem sie den Bundesrat aufgefordert hat, 12’000 Schweizer Soldaten nach Russland zu schicken, um auf der Seite der westlichen Mächte zu kämpfen. Das hat tiefe Wurzeln, aber wieso, weiss ich nicht. Ich habe immer gedacht, in der deutschen Schweiz, also sicher in der Zentralschweiz, werden die Russen mehr als Befreier – Suwarow wird zelebriert am Gotthard – und nicht so sehr als eine böse Macht betrachtet. Aber scheinbar ist die NZZ anders.
Wird das «Geneva Centre for Neutrality» die Neutralitätsinitiative unterstützen?
Jean-Daniel Ruch: Diese Initiative ist wichtig. Aber mein Ziel mit dem «Geneva Centre for Neutrality» ist nicht zu sagen, man muss mit ja oder nein abstimmen. Ich will neutral bleiben. Das «Geneva Centre for Neutrality» soll einen Rahmen für eine offene Debatte ermöglichen. Es wäre falsch, dieses lebenswichtige Thema weiterhin einer politischen Partei zu überlassen, so wie wir es mit den Themen Migration und Europa gemacht haben. Dass diese Debatten zur Neutralität auch in der deutschen Schweiz stattfinden, ist für mich sehr wichtig, und ich wäre froh, wenn das «Geneva Centre for Neutrality» dazu beitragen könnte, im Thurgau, in Schaffhausen, in Zürich, Basel, Bern und so weiter Diskussionen zu organisieren.
Kritiker der Neutralität sagen: «Neutralität ist eine Entschuldigung, ein Schutz, eine Verteidigung, um passiv sein zu können.» Wie sehen Sie das?
Jean-Daniel Ruch: Es gibt zwei Denkweisen. Es gibt eine realistische Schule, und es gibt eine mehr ideologische Schule. Die ideologische Schule will das Gute in der Welt. Und wenn man das Gute in der Welt will, muss man gegen das Böse kämpfen. Die realistische Schule sagt, die Welt besteht aus Kräfteverhältnissen oder Machtverhältnissen, und alle Parteien sind gleichzeitig gut und schlecht. Die realistische Schule würde sagen, wir müssen unsere eigenen Interessen verteidigen. Die Idee, für das Gute in der Welt zu kämpfen, ist illusorisch und kann zu Katastrophen führen. Diese Leute sagen, wir müssen nicht mehr neutral sein, wir müssen gegen die bösen Diktatoren kämpfen. Wenn sie konsequent wären, würden sie sagen, die Schweiz müsse Soldaten in die Ukraine schicken, um gegen die Russen zu kämpfen. Wenn es dafür in der Schweiz keine Mehrheit gibt, dann würden sie als Freiheitskämpfer selber ein Gewehr nehmen. Ich gehöre zur realistischen Schule. Ich glaube, Neutralität ist in unserem Interesse. Wir werden nicht das Gute, den Weltfrieden schaffen. Natürlich müssen wir etwas tun für die Stabilität in der Welt, dies ist in unserem Interesse, aber weil es in unserem Interesse ist, nicht weil wir «das Gute» machen wollen. Jeder Staat, jede Person ist auch ein bisschen egoistisch. Aber das ist auch in unserem Interesse. Entschuldigung, wir haben nichts zu tun mit diesem Krieg zwischen Russland und der Ukraine, das ist nicht unser Krieg. Israel – Palästina auch nicht, das ist nicht unser Krieg. Wenn wir etwas helfen können, dann helfen wir. Es liegt in unserem Interesse, dass diese Konflikte aufhören. Dann können wir wirtschaftlich besser tätig sein. Das Risiko Flüchtlinge zu haben, ist geringer. Wir müssen weniger bezahlen für humänitare Hilfe oder für den Wiederaufbau der Ukraine. Das Risiko einer Destabilisierung innerhalb unserer Gesellschaften wird vermindert, wenn es Frieden gibt. Es gibt also eine Reihe von Gründen, wieso Frieden in beiden Regionen und in der ganzen Welt eigentlich in unserem Interesse ist. Die deutsche Wirtschaft leidet unter den Sanktionen gegen Russland und deswegen leidet auch ein Teil der Schweizer Wirtschaft, und deswegen haben wir ein Interesse, diese Sanktionen aufzuheben. Man muss vorsichtig sein mit dem Gedanken, es sei ein Kampf des Guten gegen das Böse. Natürlich ist der Angriff Russlands vom 24. Februar für mich eine buchstäbliche Aggression gemäss der internationalen Definition der Aggression im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. Aber man muss zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die Schuld im Sinne des Gesetzes, das andere ist die politische Verantwortung. Die politische Verantwortung tragen auch die anderen grossen Mächte, die die Erweiterung der NATO, die Revolution auf dem Maidan, die »Natoisierung” der Ukraine zugelassen haben, die von Russland als Provokation empfunden worden sind. Man muss das ganz sachlich beurteilen und dann daraus die Konsequenzen ziehen, die für uns gut sind. Zu sagen «wir müssen Putin besiegen» ist eine Dummheit. Wie will man Russland besiegen? Haben Sie schon einmal gesehen, wie gross Russland ist? Ich bin erstaunt, dass Leute Politikern glauben, die sagen «Wir wollen Russland besiegen». Natürlich können wir, aber bitte, nicht mit meinem Geld und nicht mit meinem Blut und nicht mit dem Blut meiner Landsleute! So sehe ich die Frage des Guten gegen das Böse. Man kann neutral bleiben und trotzdem jegliche Verletzung des internationalen Rechtes verurteilen und verlangen oder dafür sorgen, dass der Internationale Strafgerichtshof ermittelt gegen Verbrechen oder Verletzungen des internationalen Rechtes. Das wäre die normale Prozedur.
In Ihrem Buch erwähnen sie die drei einzigen Schweizer, die bis heute den Friedensnobelpreis erhalten haben.
Jean-Daniel Ruch: Als Botschafter habe ich meinen jungen Kollegen immer die Frage gestellt: Wer sind die drei Friedensnobelpreisträger der Schweiz? Und niemand konnte mir die Antwort geben. 1901 wurde der Friedensnobelpreis an Henri Dunant für die Genfer Konventionen und an den französischen Pazifisten Frédéric Passy verliehen, der 1867 in Paris die erste Internationale Liga für Frieden und Freiheit gegründet hatte. 1902 erhielt Elie Ducommun zusammen mit Albert Gobat den Friedensnobelpreis für das Haager Übereinkommen zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten von 1899. Seit einigen Jahren gibt es eine Stiftung Fondation Albert Gobat. Seit einigen Monaten bin ich Mitglied des Stiftungsrates. Micheline Calmy Rey ist die Präsidentin.
Ich hätte die Antwort auch nicht geben können.
Jean-Daniel Ruch: Ja, wissen Sie, wir Jurassier sind eben nicht schlau genug, um damit Werbung zu machen. Dunant, Ducommun und Gobat haben diesen Preis bekommen, weil sie durch das Recht ein System des Friedens etablieren wollten. Recht statt Macht, das liegt in der Essenz der Schweiz.
Über Recht zu mehr Frieden?
Jean-Daniel Ruch: Ja, genau. Aber nicht nur das, nicht nur Frieden. Die internationale Ordnung jeglicher Gesellschaft sollte auf dem Recht basieren und nicht auf der Macht.
Herr Ruch, herzlichen Dank für das Gespräch
Die Fragen stellte Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger
Und ein kleines PS: «Kann die Schweiz auf der internationalen Bühne, wo sie etwa einen Tausendstel der Weltbevölkerung ausmacht, einen Mehrwert vorweisen? Die Antwort lautet ja. Ihre Soft Power steht, proportional zu ihrer Grösse, im weltweiten Vergleich an der Pole-Position. Zu den immateriellen Elementen dieser Soft Power gehören nicht nur die Neutralität und die direkte Demokratie. Hervorzuheben ist auch die Verbundenheit unseres Landes mit dem Recht. Das ist naheliegend: Die Stärke des Rechts schützt vor der Stärke der Mächtigen. Ein kleines Land wird immer die Stärke des Rechts dem Recht der Stärke vorziehen. Es ist daher kein Zufall, dass die beiden einzigen Friedensnobelpreise, die je an Schweizer gingen, für ihre Vision einer von internationalen Regeln bestimmten Welt verliehen wurden.» – Quelle: Jean-Daniel Ruch, Frieden und Gerechtigkeit, Erfahrungen eines Schweizer Diplomaten zwischen Balkan, Russland und Nahost, 2024.
Jean-Daniel Ruch ist 1963 in Moutier geboren. Er hat den Befreiungskampf der Jurassier hautnah erlebt. 1988 trat er im Dienst der Eidgenossenschaft, zuerst im damaligen EMD und ab 1992 im EDA. Nach Einsätzen für die OSZE in Wien und Warschau wurde er unter anderem politischer Berater der Chefanklägerin des Uno Tribunals für das ehemalige Jugoslawien. Zwischen 2008 und 2012 wurde er Sonderbotschafter für den Mittleren Osten. Er diente anschliessend als Botschafter in Serbien, Israel und in der Türkei. Seit 2024 ist er selbständig. Er hat zwei Bücher veröffentlicht: «Frieden und Gerechtigkeit – Erfahrungen eines Schweizer Diplomaten zwischen Balkan, Russland und Israel.» (Weltwoche Verlag, 2024) und einen Krimi: «Samira au pouvoir», Editions Zarka, unter dem Pseudonym Daniela Cattin.